Titel
Das Standardwerk. Franz von Liszt und das Völkerrecht


Autor(en)
Herrmann, Florian
Reihe
Studien zur Geschichte des Völkerrechts 1
Erschienen
Baden-Baden 2001: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bardo Fassbender, Institut für Völker- und Europarecht, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit der Franz von Liszt (1851-1919) gewidmeten biografischen und wissenschaftsgeschichtlichen Studie von Florian Herrmann hat die neue, von Professor Michael Stolleis herausgegebene Reihe „Studien zur Geschichte des Völkerrechts“ eine großartige Eröffnung erfahren. Die Frankfurter Dissertation, die am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte im Rahmen eines DFG-geförderten Projektes zur „Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des Völkerrechts zwischen Reichsgründung und Nationalsozialismus“ entstand, verbindet kunstvoll eine Betrachtung von Liszts als Person, seiner völkerrechtlichen Arbeit und deren Wirkung mit einer Darstellung seiner Zeit, namentlich der politischen und universitären Verhältnisse.

Ausgangspunkt des Interesses an Liszt war für Florian Herrmann das Buch, das im Titel der Arbeit als „das Standardwerk“ apostrophiert wird. Es handelt sich um Liszts Lehrbuch „Das Völkerrecht systematisch dargestellt“, welches zwischen 1898 und 1918 in elf Auflagen erschien und in diesem Zeitraum zu „dem“ deutschsprachigen Lehrbuch des Völkerrechts schlechthin avancierte und weit in das europäische Ausland ausstrahlte (das Werk wurde in die russische, französische, spanische, polnische und kroatische Sprache übersetzt). Nach Liszts Tod erschien 1925 eine zwölfte, von Max Fleischmann in Halle bearbeitete Auflage, die noch heute als repräsentativ für die damalige Sicht der Völkerrechtslehre zitiert wird. Eine solche Autorität hat kein späteres deutschsprachiges Lehrbuch mehr erreicht, weder vor noch nach dem Zweiten Weltkrieg.

Berühmt war Franz von Liszt freilich in seiner Zeit vornehmlich als Strafrechtler und Kriminalpolitiker, dessen Konzeption von Strafe und Strafrecht sich gegen die metaphysischen Begründungen der Vergeltungsstrafe richtete und versuchte, die Straftat durch eine Erforschung der Ursachen des Verhaltens des Straftäters zu erklären. Liszts kriminalpolitische Forderungen lauteten entsprechend: Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ein auf konkrete Resozialisierung des Täters ausgestalteter Strafvollzug.

Herrmanns Buch ist in drei große Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel (S. 11-132) stellt Liszt als Kriminalisten, Völkerrechtler und Politiker vor. Auf eine Beschreibung von Herkunft, Werdegang und Prägung folgt die des „wissenschaftlichen Aufstiegs“ mit den Stationen Gießen, Marburg und Halle. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf dem „Zenit der Laufbahn“ Liszts, seiner Zeit als Ordinarius an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (1898-1917), in welche auch sein politisches Engagement auf der liberalen Seite als Stadtverordneter in Charlottenburg (1903-1912), Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (1908-1913) und des Reichstags (1912-1918) fiel.

Mit dem zweiten Kapitel (S. 133-174) schreibt Herrmann unter Benutzung des Archivs des Springer-Verlags die Werkgeschichte des Lisztschen Lehrbuchs von seinen Anfängen bis zum „Ende der Erfolgsstory“ am Anfang der dreißiger Jahre, als der Verleger Ferdinand Springer keine neue Auflage des Buches mehr unterstützte und stattdessen den Wiener Professor Alfred Verdross ein neues Lehrbuch schreiben ließ, das 1937 erschien und mit insgesamt fünf Auflagen (zuletzt 1964) seinerseits zu einem verlegerischen Erfolg wurde. Max Fleischmann wurde als Jude 1933/35 seine Lehrbefugnis entzogen; 1943 nahm er sich das Leben, als die Gestapo ihn verhaften wollte (S. 172). Das Lehrbuch wurde von nationalsozialistischen Autoren als das Werk eines Juden (Fleischmann) bzw. „Judenfreunds“ (Liszt) diskreditiert (S. 173).

Das dritte Kapitel des Buches (S. 175-252) ist Liszts völkerrechtlichen Vorstellungen gewidmet, wie sie im Lehrbuch und sonstigen Veröffentlichungen ihren Niederschlag gefunden haben. Herrmann fasst sie wie folgt zusammen: „Er war und blieb stets ein eigenständiger Geist, der sich nicht gerne einordnen ließ. […] Er war nicht der reine Positivist, sondern bemühte sich durch seine völkerrechtssoziologischen Ansätze, das Auseinanderdriften von Recht und Realität zu verhüten. Er nahm nicht Abschied vom souveränen Staat und befürwortete doch seine bedingungslose Unterordnung unter ein internationales Regime der Friedenssicherung.“ (S. 262) „Der offene Blick für die Zukunft bestimmte sein völkerrechtliches Denken. Die Anregungen dafür erhielt er wiederum seiner politischen Grundlinie entsprechend eher von der Linken als von der Rechten, also von der Friedensbewegung im weiteren Sinne und von den Linksliberalen. […] Insgesamt stand die Interessen- und Kulturgemeinschaft der Völker sowie deren Organisation in einem Staatenverband im Mittelpunkt seines völkerrechtlichen Interesses. Zur nachhaltigen Sicherung des friedlichen Nebeneinanders der Staaten forderte er eine intensivere Integration der Staatenwelt. […] So forderte er etwa (seit 1914) einen wirklichen, mit Gerichts- und Zwangsmacht ausgestatteten Völkerbund als Zusammenschluß gleichberechtigter Staaten zur Sicherung des Friedens.“ (S. 258 ff.)

Damit dokumentiert Liszt, wie der Verfasser schreibt, „die Spannung zwischen altem, klassischem und modernem Völkerrecht wie kaum ein anderer“ (S. 262). Liszt hat mit seinem Werk aber auch eine Brücke zwischen beiden geschlagen, mit sicherem Gespür für die langfristige künftige Entwicklung der internationalen Rechtsordnung und viel weitsichtiger als die große Mehrheit seiner Kollegen, die noch in den folgenden Jahrzehnten bis hin zum Zweiten Weltkrieg mit Erich Kaufmann „vom Wesen des Völkerrechts als eines reinen Individualrechts (der Staaten)“ ausgingen. 1 Liszt dachte dagegen weniger von den einzelnen Staaten als von der Staatengemeinschaft her (S. 193) und vertrat, wenngleich ohne sicheres theoretisches Fundament, die Geltung eines objektiven, von der Anerkennung des einzelnen Staates unabhängigen, aus der „Natur der Gemeinschaft der Staaten“ folgenden Völkerrechts. Bestimmte grundlegende Rechte und Pflichten seien jedem Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft kraft seiner Mitgliedschaft eigen (vgl. S. 211 ff.). Selbst heute, im Zeitalter der Vereinten Nationen, ist diese Ansicht zwar das Credo einer „fortschrittlichen“, souveränitätskritischen und gemeinschaftsorientierten Völkerrechtslehre, aber doch keineswegs unbestritten. 2 Zudem verteidigte von Liszt „die Erkenntnis, daß es Lebensinteressen, Güter der Menschen gibt, deren Träger nicht der einzelne Staat, sondern eine Gesamtheit von Staaten ist“ (in der 11. Auflage S. 2). Eine Sicht der Entwicklung des Völkerrechts als bloßer Geschichte eines Kampfes der Staaten um Macht und Interessen, wie sie in Deutschland im Kaiserreich und später verbreitet war,3 war ihm fremd.

Das Buch beschließen eine Zusammenfassung (S. 253-262) und ein Anhang mit einem Verzeichnis der völkerrechtlichen Arbeiten Liszts sowie der benutzten Quellen (darunter auch Ungedruckter aus verschiedenen staatlichen und universitären Archiven) und Literatur.

Hans Wehberg schrieb 1913 in der Zeitschrift „Die Friedens-Warte“ über die neunte Auflage des Lisztschen Lehrbuchs: „Die Vorzüge des Werkes bestehen bekanntlich in der guten Systematik, der klaren Sprache, der Vollständigkeit der Literaturnachweise […]“.4 Ein gleiches Kompliment muss man auch der Arbeit Herrmanns machen. Liszt hätte seine Freude daran gehabt. Herrmann erweist sich als gleichermaßen juristisch wie historisch sachkundig und urteilsfähig. Der Autor entgeht der naheliegenden Versuchung, Liszt auf ein Heldenpodest zu stellen. Seine Darstellung ist sorgfältig, sein kritisches Urteil behutsam und abgewogen. Die Persönlichkeit und die Zeit Liszts nehmen in dem Buch lebhafte Gestalt an. Man erfährt viel über die Lage der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland und Europa in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Kritik Liszts aus dem Jahre 1910, vorgetragen im preußischen Abgeordnetenhaus, der wissenschaftliche Unterricht im Völkerrecht werde in Deutschland „und speziell in Preußen“ im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarländern vernachlässigt, würde auch heute Zustimmung finden. Nachdrücklich prangerte Liszt an, dass „wir (…) keine Professur für Völkerrecht (haben), sondern der Unterricht irgendwo aufgehängt (wird) und dann lehrt sie dieser oder jener im Nebenfach“ (S. 84 f.).

Herrmann betont, Liszt sei zeitlebens Optimist und Idealist gewesen. Auch im Ersten Weltkrieg, in dem einige seiner Kollegen das Völkerrecht als „Wahngebilde“ entlarvt sahen (S. 227 ff.), habe er seinen Glauben an eine „schöne Zukunft der Menschheit“ nicht verloren. Nach dem Ende des Krieges schrieb Liszt im Vorwort zur 11. Auflage seines Lehrbuchs (1918): „Aber der Gedanke, daß der Krieg durch die Ausbildung einer lebenskräftigen zwischenstaatlichen Rechtsordnung vermeidbar gemacht werden kann und daß die folgerichtige Entwicklung der heute bereits vorhandenen Ansätze zu einer friedlichen Austragung der Staatenstreitigkeiten die nächste und wichtigste Aufgabe der im Friedensschlusse wieder aufgerichteten Staatengemeinschaft ist, mußte stärker als bisher betont werden.“ Es ist nicht das geringste Verdienst Herrmanns, in unserer Zeit, in der Krieg und Kriegsgeschrei wieder zugenommen haben, diese klare Stimme der Vernunft, des Mutes und der Zuversicht in Erinnerung gerufen zu haben.

Anmerkungen:
1 Vgl. Erich Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, Tübingen 1911, S. VI.
2 Vgl. nur die umfassende Untersuchung von Christian Tomuschat, Obligations Arising for States without or against Their Will, Recueil des cours (de l'Académie de Droit International de La Haye), Bd. 241 (1993 IV), S. 195-374.
3 Vgl. zur Kulmination dieser Sicht in der Zeit des Nationalsozialismus Bardo Fassbender, Stories of War and Peace: On Writing the History of International Law in the ‘Third Reich’ and After, European Journal of International Law Bd. 13 (2002), S. 479-512.
4 Die Friedens-Warte Bd. 15 (1913), S. 30 f. (31). Diese Rezension wird auch erscheinen in: Die Friedenswarte. Journal of International Peace and Organization 77 (2002/03); vgl. www.friedens-warte.de.

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